Christine Ammann: Leseprobe

David G. Haskell Das verborgene Leben des Waldes

16. April – Vogelerwachen

… Für einen Moment nur erstrahlt der Himmel in Rosarot, dann flutet von Osten Gelb herein und lässt das Mandala erglühen. Als sich die Färbung Richtung Horizont zurückzieht, hinterlässt sie am übrigen Himmel ein milchiges Licht. Ein Rotaugenvireo begrüßt den Morgen mit exakt getakteten Pfiffsalven. Manchmal steigt sein Ton am Ende an: „Wo bin ich?“, dann wieder ab: „Da bist du …“. Der Vireo befragt den Wald, antwortet unermüdlich und setzt seinen Lehrvortrag noch in der Mittagswärme fort, wenn die anderen Vögel das Rednerpult längst verlassen haben. Und wie es sich für den Berufsstand ziemt, steigt er selten von den Höhen des Blätterdachs herab: Meistens kann man ihn nur anhand seiner hellen, wiederholten Rufe ausmachen. Zum Vireo gesellt sich ein Braunköpfiger Kuhstärling. Kuhstärlinge sind Nestschmarotzer, die ihre Eier in die Nester anderer Vögel legen. Von sämtlichen Elternpflichten befreit, können sie sich vollkommen dem Liebeswerben widmen. Das Männchen beschäftigt sich zwei bis drei Jahre damit, seinen Gesang zu perfektionieren: Sein Lied tönt wie flüssiges Gold, das hinabfließt, dann erstarrt und so schrill klingt, als stoße es an Stein – das wallende Fluten einer kostbaren Flüssigkeit, gepaart mit dem Klingeln von Metall.
Der Himmel leuchtet nun blau, und das Farbenspiel des Sonnenaufgangs ist im Osten zum pastellfarbenen Wolkenband verblasst. Unterhalb des Mandalas raspelt laut ein Roter Kardinal, jeder Ton das Wetzen eines Feuersteins. Die spröden Rufe kontrapunktieren das Kollern eines Truthahns unten im Tal. Der Wald hat das ferne Kollern verwandelt: Es klingt, wie Henry Thoreau sagt, „wie von einer Waldnymphe gesungen“. Die Vegetation wirft den Ton zurück und verdichtet ihn. Doch es ist die Zeit der Truthahnjagd, das Kollern könnte auch von menschlichen Nachahmern stammen, die auf der Suche nach Kulinarischem sind, und nicht von einem wahren Truthahn auf der Suche nach Liebe.
Die verblassenden Farben der Morgendämmerung gewinnen noch einmal an Kraft. Der Himmel glüht in Flieder und Narzissengelb: Die Wolken sind farbig geschichtet, wie bunte aufgetürmte Decken auf einem Bett. Weitere Vögel begrüßen den jungen Morgen. Das nasale onk der Spechtmeise trifft auf krächzende Krähen, ein Grüner Waldsänger murmelt in den Ästen über dem Mandala. Als die Farben unter dem glühenden Blick ihrer Mutter, der Sonne, dann vollständig verblichen sind, singt eine Walddrossel ihr Lied: der krönende Abschluss des Morgenkonzerts. Ihr Singen scheint aus einer anderen Welt herüberzuwehen, so ruhig und rein, dass ich mich durch seine Anmut geläutert fühle. Dann ist ihr Lied vorbei, der Vorhang fällt, und ich bleibe mit meiner verlöschenden Erinnerung allein zurück.

Sophia Loren Mein Leben

Oscarnacht
Tränen schossen mir in die Augen. Ich ließ mich von meinen Gefühlen mitreißen. Wieder läutete das Telefon, wieder Mammina, zum zwanzigsten Mal. Angeblich wollte sie mich beruhigen, doch in Wahrheit wurde sie ihrer eigenen Aufregung nicht Herr. Carlo antwortete brüsker als gewöhnlich. »Romilda, lass Sophia einfach in Ruhe. Wir rufen an, sobald wir etwas wissen.« Die beiden schätzten und achteten sich sehr, waren aber mehr oder weniger gleich alt und betrachteten sich in gewisser Weise als Konkurrenten. Das galt zumindest für Romilda, die sich zurückgesetzt fühlte, seitdem dieser Mann so viel Platz in meinem Leben einnahm. Natürlich fürchtete sie, die Dinge würden sich in einer für die Familie Scicolone »typischen« Weise entwickeln. Man darf den Männern nie trauen, schon gar nicht, wenn sie verheiratet sind.
Schließlich hackte ich noch die Zwiebel, hinter der ich meine Tränen verstecken konnte, und fühlte mich sofort besser. Wenn schöne oder weniger schöne Überraschungen einen zu überwältigen drohen, braucht es manchmal nur eine Kleinigkeit, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen und das Gleichgewicht zurückzugewinnen.
Um drei Uhr nachts kam ein Überseetelegramm aus Santiago de Chile, mit der Nachricht, dass doña Loren den Golden Laurel als beste Hauptdarstellerin 1961 gewonnen hatte. Ein kleiner Vorgeschmack auf den Oscar oder Ironie des Schicksals? Der Morgen lag noch in weiter Ferne, und mit dem Schlaf war es endgültig vorbei. »Und jetzt?« Wie sollte ich die Zeit bloß totschlagen? Ich kuschelte mich aufs Sofa, wartete, dass es hell würde, und bald leistete mir Carlo Gesellschaft.
Auch wenn die Zeit sich scheinbar endlos dehnt oder gar stillzustehen scheint, vergeht sie glücklicherweise irgendwann doch. Aus Minuten wurden Stunden, aus der Nacht wurde Tag. Wenn wir richtig gerechnet hatten, musste um sechs Uhr morgens alles entschieden sein. Doch wir warteten vergebens: kein Telefon klingelte, kein Telegramm kam, nichts. Die Stille tat beinahe weh. »Eigentlich können wir jetzt schlafen gehen«, dachten wir, ohne es auszusprechen, wagten aber nicht, vom Sofa aufzustehen. Wie gelähmt saßen wir in der Dämmerung, starrten auf die Wände, die Bilder, die Fotos und nickten schließlich wie kleine Kinder ein.
Dann, um 6.39 Uhr, ein Schrillen. Hartnäckig wie ein Wecker, eine Sirene. Carlo stürzte zum Telefon. »Wer? Wer? Cary? Cary Grant?« Abgrundtiefe Stille und dann ein Freudenausbruch, so explosiv wie Böller auf dem Dorffest. In seinem holprigen Englisch schrie er: »Sophia win, Sophia win, Sophia win!!!« Ich riss ihm den Hörer aus der Hand. Am anderen Ende der Leitung die sanfte Stimme von Cary Grant. »It’s wonderful, Sophia, it’s wonderful. You are always the best!« Ich schenkte Cary über den Ozean hinweg ein strahlendes Lächeln, ich schenkte es mir, uns, dem Leben. Dann legte ich auf und hüpfte und tanzte durchs Wohnzimmer. Plötzlich übermannte mich große Müdigkeit und in meinem Kopf drehte sich alles. Ich sammelte mich und rannte in die Küche, um nachzusehen, ob die Spaghettisauce nicht angebrannt war.

Vanna Vannuccini und Francesca Predazzi
Feierabend: Eine Reise in die deutsche Seele

„Das glaub’ ich nicht”, sagt unser deutscher Freund und blickt uns erstaunt an. „Andere Sprachen haben kein Wort für Schadenfreude?” Aus seiner Frage spricht aufrichtiges Interesse, sein Ton klingt, als denke er: „Wie kann das denn sein?” Unser deutscher Freund ist durchschnittlich gebildet, spricht fließend Englisch, einigermaßen Französisch und sogar ein wenig Italienisch. Aber bisher war ihm noch nie aufgefallen, dass es im Deutschen zahllose Wörter gibt, die andere Sprachen nicht kennen. Er schrieb das eher den anderen Sprachen zu, die merkwürdigerweise weiße Flecken aufwiesen.
„Aber die Deutschen sind doch nicht die Einzigen, die sich über das Missgeschick anderer freuen?“, wendet er ein. Aber nein, da können wir ihn völlig beruhigen. Auch wenn wir kein entsprechendes Wort für Schadenfreude kennen, ist uns diese menschliche Regung keineswegs fremd: dieser aufkeimende Lachreiz, in dem ein wenig Neid mitschwingt, wenn wir uns am Missgeschick anderer laben. Und wenn das Missgeschick noch dazu einem erfolgreichen Mitmenschen zustößt, dann kommt die Schadenfreude ganz von allein.
„Mit der Schadenfreude mögt ihr ja recht haben, aber die Zweisamkeit steht auf jeden Fall zu Unrecht in eurem Buch“, beharrt unser Freund. Die innige, vertraute Paarbeziehung, die die Welt draußen vorlässt, sei doch ein weltweit verbreitetes menschliches Verhalten, das seit Menschengedenken existiert. Das Wort muss doch in anderen Sprachen vorkommen. Tut es aber nicht. Natürlich gibt es all das, was die Zweisamkeit ausmacht: das innig zugewandte Paar, das für sich allein sein möchte und alles miteinander teilt, die exklusive Paarbeziehung. Mit Paolo und Francesca aus der Göttlichen Komödie können wir sogar mit einem berühmten literarischen Beispiel aufwarten. Doch ein Wort wie Zweisamkeit kennen wir nicht. Und damit befinden wir uns in guter Gesellschaft. Im Englischen, Französischen oder Spanischen sucht man das Wort ebenfalls vergebens. Langsam betrachtet unser deutscher Freund seine Sprache mit anderen Augen.

Beppe Grillo, Gianroberto Casaleggio, Dario Fo
5 Sterne – Über Demokratie, Italien und die Zukunft Europas

BG Hör mal, wenn ich jemandem vom Fernsehen oder von der Presse unser Programm erkläre, schaut er mich meistens fragend an und sagt: „O.k., aber wo ist das Programm?“ Du antwortest ihm: „Wir wollen den Bürgern politische Instrumente an die Hand geben, in der Verfassung ein Volksbegehren ohne Quorum verankern, wir wollen das Parlament verpflichten, über Volksbegehren zu debattieren.“ Die Antwort: „O.k., das weiß ich, aber was sagt euer Programm?“ Also rede ich weiter: „Man muss die Börse reformieren, die Ämterhäufung abschaffen, Schachtelbeteiligungen auflösen …“. Starrer Blick: „O.k., gut, aber das Programm?“ Also spreche ich über die Finanzkrise, die Abschaffung der Provinzen, die Wahlkampfkostenerstattung, die finanziellen Zuwendungen an Tageszeitungen … Einwand: „Gut, aber was tut ihr, um den Arbeitsmarkt zu beleben?“ „Wir ersetzen Erdöl durch erneuerbare Energien. Dadurch schaffen wir unter anderem neue Arbeitsplätze in der stagnierenden Bauwirtschaft und in der Landwirtschaft, die heutzutage Millionenschäden verursacht. Gleichzeitig muss man kleine und mittlere Betriebe steuerlich entlasten…“ Es ist hoffnungslos. Du kannst ihnen stundenlange Vorträge halten, es kommt immer derselbe Sermon: „Ihr habt kein Programm, ihr wollt nur alles niedermachen.“ Was soll man solchen Idioten noch sagen?
GC Wofür seid ihr überhaupt, außer dass ihr gegen alles seid? Es ist immer dasselbe Mantra, das wir zu hören bekommen. Und ausgerechnet von Leuten, die noch kein einziges Programm wirklich umgesetzt haben, falls sie, was unwahrscheinlich ist, überhaupt ein Programm haben.
BG Einfach unglaublich. Alle meine Auftritte waren ein einziges Programm: wie baut man einen Motor, wie baut man ein Haus, wie kann man Strom transportieren oder Müll wiederverwerten? Ich mache seit zwanzig Jahren Politik und rede über reale Dinge, über Wirtschaft, Arbeitsplätze und Innovationen.